Wer schon einmal einen Text geschrieben hat, weiß, dass „Schreiben“ ein sehr harmlos daherkommendes Wort für ein komplexes und manchmal langwieriges Materialisierungsgeschehen ist. Was ein Text wird, das beginnt vor einer leeren Schreibfläche zwischen Textidee, Vorsatz oder Impuls und schreibender Hand. Das Ringen um die richtigen Worte, die relative Linearisierung eines Gedankenzusammenhangs, die innere Stimmigkeit können das Schreiben in unendliche Überarbeitungsschleifen verwickeln oder gar nicht erst in Gang kommen lassen.
Als Literaturwissenschaftlerin finde ich die Frage: „Was ist ein Text?“ faszinierend. Folgt man der überlieferten Wortbedeutung, dann sind Texte Flechtwerke aus historischen, koventionellen und neu hervortretenden Bedeutungszusammenhängen. Sie sind aber auch ein Gewebe aus Buchstaben, das sich über eine Schreib- oder Druckunterlage erstreckt.
Der Text als Buch
Wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, sind es zunächst einmal die Bindung und der Einband, die einen Zusammenhang zwischen den Papierbögen herstellen. Es ist die leere Oberfläche der Papierseite, die Buchstaben und Wörter versammelt. Die Bedeutungszusammenhänge, die wir Buch oder Text nennen, materialisieren sich als Klebstoff und Faden, Flächenfächer und Leerstellen. Wenn wir anfangen zu lesen, finden wir dann einen Titel und ein Inhaltsverzeichnis, Seitenzahlen und häufig Kapitel oder Abschnitte, die den Text aufteilen und ordnen.
Most of the time, when we talk about books, about literature, we have no particular form in mind. It is not the actual book, the material object, but rather the text-in-the-abstract — words, plots, characters — that concerns us. Your copy or mine, first edition or cheap reprint, hardback, paperback or digital download, it doesn’t matter: Jane still marries Mr Rochester in the end. But, reader, there is no such thing as an immaterial text. And however it is instantiated — whatever physical form it takes — we need to know that it works, that the words it delivers up to us are the right ones in the right order.
Dennis Duncan
In diesem engeren Sinne von Text zu reden, bedeutet also, dass keine Idee, kein Narrativ, keine Poesie sich unabhängig von ihrer materialen Grundlage manifestiert. Die Idee des Textes ist an seine Notation gebunden, erst die Verschriftlichung macht aus dem Gedachten einen Text.
Der immaterielle Text
Ob handschriftlich auf eine Oberfläche eingetragen, technisch gedruckt oder in eine virtuelle Leere hineingetippt, jedes Mal kann ein Text dabei herauskommen. Wer schreibt, verhält sich jedoch unterschiedlich zu den Leerstellen und Absätzen. Für die Schreibhand, die ein traditionelles Schreibwerkzeug hält, wird die ordnende Leere durch eine winzige Unterbrechung des Schreibvorgangs offengelassen. Je nach Stil der Handschrift erscheinen die Buchstaben und Worte in mehr oder weniger vornehmer Distanz zueinander auf dem Papier. Die Finger auf der Tastatur tippen dagegen unterschiedslos vor sich hin, Leere unten, Absatz am Rand und weitere Optionen anderswo. Für jede Form der Leere, je nachdem, wo und mit welcher Unterbrechungsfunktion sie auftauchen soll, wird ein eigenes unsichtbares Zeichen gesetzt.
Der immaterielle Text, wie Dennis Duncan ihn nennt und als nicht existierend ablehnt, ist dann das, was beim Lesen aus all diesen Unterbrechungen und formatierten Leerstellen auftaucht; gewebt wird also nicht nur mit dem Sinn der Buchstaben, Worte und Sätze, sondern auch in den Instanzen, in denen der Blick schwebt und von einer Erscheinung zur nächsten fliegt.
Und so finden Lesende die tragenden Elemente eines Texts häufig zwischen den Zeilen: manchmal eingeklemmt und verborgen wie ein vergessener Bleistift in einem zugeklappten Buch, manchmal hervorquellend wie zu viel Druckerschwärze.
Für die Malerei hat Maurice Merleau-Ponty in der Filmaufnahme und ihrer Möglichkeit zur Zeitlupe eine Gelegenheit zur Beschreibung dieser Instanzen gefunden:
Man hat einmal Zeitlupenaufnahmen von Matisse bei der Arbeit gemacht. Der Eindruck war ungeheuer, so daß sogar Matisse beeindruckt gewesen sein soll. Denselben Pinsel, der, mit bloßem Auge betrachtet, von einem Zug zum anderen sprang, sah man jetzt in einer langgezogenen und feierlichen Zeit meditieren, beim unmittelbaren Bevorstehen eines Weltbeginns zehn mögliche Bewegungen versuchen, vor der Leinwand tanzen, sie mehrmals streifen unnd schließlich wie der Blitz zum einzigen möglichen Strich niedergehen.
Maurice Merleau-Ponty
Zum Weiterlesen:
❋ Dennis Duncan, Index, A History of the. A Bookish Adventure. London: Allan Lane/ Penguin 2021. (Zitat S. 89)
❋ Index, eine Geschichte des in der Übersetzung von Ursel Schäfer.
❋ Maurice Merleau-Ponty, Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, in: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hamburg: Felix Meiner 2003. (Zitat S. 120)