Wer übersetzt Weltliteratur? Keiner und Alle.

Silas Flannery, berühmter Romanautor in Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht, wird eines Tages von einem seiner Übersetzer besucht: Der legt ihm ein japanisches Buch vor, das keine Übersetzung sei, sondern ein nach der »Formel der Romane von Silas Flannery« seriell produzierter Text von der Sorte, wie sie in englischer Übersetzung den Weltmarkt überschwemmen. Obwohl hier eine technische Reproduktion — ein von einer Firma entdecktes und durchgeführtes Verfahren — als Mechanismus zur Erzeugung von Weltliteratur beschrieben wird, gerät der von einer Sinn- und Schreibkrise geplagte Romanautor über die Möglichkeit eines produktiven japanischen Alter Egos in Träumereien: 

Ich sehe vor mir einen alten Japaner im Kimono, der über eine kleine, zierlich geschwungene Brücke geht: Er ist mein japanisches Ich, das sich eine meiner Geschichten ausdenkt und dem es schließlich gelingt, als Ergebnis einer spirituellen Wanderung, die mir ganz äußerlich bleibt, mit mir identisch zu werden …

Silas Flannery

Während die hinter dem Label der nichtautorisierten Übersetzung verborgene Reproduktionsformel den fiktiven Romanautor zwar dazu verführt, sich selbst als unsichtbaren Ghostwriter und seine Bücher als »Welt ohne Mittelpunkt, ohne Ich« zu imaginieren, kommt er schließlich doch zu der Beobachtung, dass ihm die Vorstellung, eine »unpersönliche Schreibkraft« zu sein, nicht behagt. Er stellt fest, dass die Wahrheit eines Buches immer nur eine individuelle sein könne, und schließt:

Die einzige Wahrheit, die ich schreiben kann, ist die des Augenblicks, den ich erlebe.

Silas Flannery

In den Imaginationen des fiktiven Romanautors finden sich Übersetzen und Schreiben zu einem Sekretariat oder einer Messstation des Erlebens zusammen. Und obwohl sich eher verdunkelt, was da genau geschieht oder worum es geht, erlangen wir immerhin die Erkenntnis, dass die Existenz als »reines Medium« für Schreibende und Übersetzende weder erstrebenswert noch überhaupt im Bereich des Möglichen erscheint. Das reine Medium des Texts löscht durch die Kenntnis der Reproduktionsformel Sprach- und Schriftdifferenzen, aber, wie wir vom Reisenden in einer Winternacht erfahren, irgendwie auch Übereinstimmungen von Textgehalten aus. Es manifestiert sich eher als reflexive Spielfigur oder strategische Leerstelle einer Literaturkomödie und verwirrt in dieser Rolle alle Zusammenhänge zu einem unterhaltsam unauflöslichen Knäuel.


Zum Weiterlesen:

Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht, Frankfurt/M.: Fischer 2019 [2012]. ( Zitate auf S. 193ff., S. 206.)

Life and Work of Italo Calvino

Back to Top