… La puissance de notre intelligence et de notre sentiment nous ne pouvons les développer qu’en nous-mêmes, dans les profondeurs de notre vie spirituelle. Mais c’est dans le contact avec les autres esprits qu’est la lecture que naissent les belles façons de l’esprit.…
…Die Kraft unserer Sensibilität und unserer Intelligenz können wir nur in uns selbst entwickeln, in den Tiefen unseres geistigen Lebens. Doch in der Berührung mit anderen Geistern, wie es das Lesen ist, vollzieht sich die Erziehung der »Façons« des Geistes.…
Marcel Proust
So sehen diese Zeilen von Marcel Proust im faksimilierten Exercise Book aus (Bild oben), so klingen sie in Sur la lecture und als Tage des Lesens. Das lektorierende Lesen hatte Proust wohl nicht unmittelbar gemeint… Er dachte darüber nach, wie sich Belesenheit in verschiedenen Dimensionen entfaltet und beschreiben lässt. Warum Prousts Übersetzer in diesem Zitat das Lesen bzw. »la naissance des belles façons de l’esprit« zur »Erziehung« macht, darüber lässt sich wohl streiten. Man könnte auch so übersetzen:
…Die Kraft unserer Intelligenz und unseres Gefühls können wir nicht entwickeln, nur an uns selbst, in den Tiefen unseres geistigen Lebens. Aber es ist in der Begegnung mit anderen Geistern, die die Lektüre ist, dass ihr die schönen Haltungen des Geistes entspringen.…
Was immer nun die belles façons de l’esprit auch sein mögen … Wenn Lektorieren Reflexion und Überarbeitung von Geschriebenem bedeutet, das Umformulieren, Kürzen, Komprimieren, Erweitern, Umstrukturieren — dann waren das immer schon lektorierte Zeilen, hier nun frei nach dem handschriftlichen avant-texte (Bild oben), dessen Manuskript 2004 in einer limitierten Faksimile-Edition zugänglicher gemacht wurde, in der Transkription von Jürgen Ritte:
… La puissance de notreintelligenceet de notre
Marcel Proustle sentiment,nous ne pouvons les développer qu’en nous-mêmes, dans les profondeurs de notre vie spirituelle. Mais c’est danslecontact avec les autresesprits qu’est la lectureque naissent les belles façons de l’esprit.…
Wer einen Text schreibt, kann an einem bestimmten Punkt fast nur durch das Vergehen von Zeit in eine weitere reflexive Distanz zum Geschriebenen treten, die auch den für die Überarbeitung notwendigen frischen Blick zulässt. Zeit, die häufig nicht verfügbar ist. Die Lektorin beschleunigt den Überarbeitungsprozess, indem sie interferierend liest, mit einem lesenden und einem schreibenden Auge, und dort aufmerksam innehält, wo der primär das Schreiben fokussierende Blick weitergleitet. Unter dem lektorierenden Blick wird der Text zu einem mehrdimensionalen Schichtengebilde, das in unterschiedlichen Skalierungen zu durchdringen ist. Das Lektorieren ist kein Mitschreiben und nicht das gleitende Modellieren des eigenen Entwurfs, eigener Skizzen, wie es auf den Seiten von Prousts Notizheft zu beobachten ist. Es erschöpft sich aber auch nicht im Korrigieren von Fehlern und Aufzeigen von Verbesserungsmöglichkeiten. Die Lektorin dokumentiert ihre für den Überarbeitungsprozess relevanten Leseeindrücke und begleitet die daraus resultierenden Veränderungen. Der Text bleibt dabei zunächst ein Werkstatt-Text, den sie in die Werkstatt zurückgibt, aus der er kam.
Als »recht unaufgeräumt« beschreibt Ritte die Werkstatt, in die Prousts Manuskript blicken lässt. Sämtliche in einem gebundenen Heft möglichen Unterbrechungen und Anverwandlungen von Ordnungszusammenhängen sind in diesem avant-texte anzutreffen: Die ersten Seiten des Exercise Book sind von fremder Hand für ein englischsprachiges Exzerpt verwendet worden. Proust selbst blätterte für seine mal mehr, mal weniger fragmentarischen Eintragungen einige Seiten um, drehte dann irgendwann das Heft kopfüber und fuhr auf der letzten Seite fort, wie Ritte erklärt. Anmerkungen und Nachtragungen schwappten über die Seitenränder und füllten alles mit Worten. Auch wenn es selten bereits in diesem Stadium von draußen hinzugeladen wird, ist das lektorierende Lesen dann, um im Bilde zu bleiben, ein beschürztes Lesen mit hochgekrempelten Ärmeln: ein avant-lire, das den Werkstattcharakter dort aufzeigt, wo er unbeabsichtigt durchscheint, und dort wiederherstellt, wo er zu früh aufgegeben wurde oder wo etwas zu glatt daherkommt.
In Sur la Lecture ist das Lesen — nach Proust in dem zitierten Abschnitt eine Begegnung mit anderen Geistern — selbst der Geist vornehmer Belesenheit, weit entfernt von den frühen Kapriolen des Denkens, wenn es erstmals unter das lineare Diktat der Zeile und die materiellen Begrenzungen des Papiers gezwungen wird. Diese sich wieder von den Büchern und Texten lösende vornehme Belesenheit schichtet sich aus weit in die Kindheit zurückreichenden Erinnerungen auf und ermöglicht Vertrautheit mit klassischer Literatur und einen soveränen Umgang mit Tradition und Erbe. So schreibt Proust:
…La distinction et la noblesse consistent dans l’ordre de la pensée aussi, dans une sorte de franc-maçonnerie d’usages, et dans un heritage de traditions.…
Zum Weiterlesen:
❁ Marcel Proust, Tage des Lesens. Drei Essays. Deutsch von Helmut Scheffel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963.
❁ Marcel Proust, Sur la Lecture. Tage des Lesens. Faksimile der Handschrift, Transkription, Kommentare und Essays. Hg. von Jürgen Ritte, Reiner Speck. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. (Zitate auf S. 114, S. 158, S. 68, S. 46)